33. Mahn- und Gedenktreffen am 02. September 2023

33. Mahn- und Gedenktreffen

Initiativgruppe Lager Mühlberg e.V. in Mühlberg/Neuburxdorf

Beim 33. Mahn- und Gedenktreffen hat Dr. Markus Pieper, Geschäftsführer der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft aus Dresden eine beeindruckende Rede gehalten, die hier untenstehend veröffentlicht wird.

Sehr geehrte ehemalige Gefangene des Lagers Mühlberg und sehr geehrte Angehörige, sehr geehrte Mitglieder der Initiativgruppe Lager Mühlberg, lieber Pfarrer Taatz, lieber Alex Latotzky, liebe Anna Kaminsky, meine sehr verehrten Damen und Herren!

Vermutlich Anfang 1947 gelang es Willy Stieber, zwei kurze Textnachrichten aus dem sowjetischen Lager hier in Mühlberg an seine Frau und seine beiden Töchter auf den Weg zu bringen. Darin schrieb er:

„Liebe Kinder! Helft Mutti über die schwere Zeit! Ich siege doch! Euch beiden meine ganze Liebe! Ihr wart und seid mein Stolz! Und meine Freude! Vati“ und „Herzlichste Grüße! Ich halte aus!“

Solche so genannten Kassiber waren für die Gefangenen enorm wichtig, weil ihnen jeglicher Kontakt mit der Außenwelt streng verboten war und die meisten von ihnen nach ihrer Verhaftung keine Gelegenheit mehr hatten, ihre Familien zu informieren.

Als Willy Stieber die Nachrichten an seine Familie aus dem Lager Mühlberg herausbringen konnte, war er 58 Jahre alt. In der Weimarer Republik hatte er als Gymnasiallehrer in Halle an der Saale gearbeitet. Dort engagierte er sich für das „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“. Diese Vereinigung stand den Sozialdemokraten nahe und hatte die Verteidigung der demokratischen Verfassungsordnung gegen Feinde der Republik zum Ziel.

Als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, stand Willy Stieber als früheres Reichsbanner-Mitglied unter Beobachtung und war Benachteiligungen in seiner beruflichen Laufbahn ausgesetzt. Nach Kriegsende beteiligte er sich am Neuaufbau und wurde Direktor einer Oberschule in Halle.

In den Abendstunden des 27. Februar 1946 erschien plötzlich ein Zivilist an seiner Tür und bat ihn zu einem Gespräch über Angelegenheiten des Schulwesens. Willy Stieber wurde jedoch zum Sitz des sowjetischen Geheimdienstes NKWD gebracht und anschließend im Zuchthaus „Roter Ochse“ in eine Kellerzelle gesperrt, in der das Wasser zentimeterhoch stand. Drei Monate später verlegte man ihn nach Torgau in das sowjetische Speziallager Nr. 8 und nach weiteren acht Monaten im Januar 1947 schließlich in das Speziallager Nr. 1 hier in Mühlberg.

Auf der Transportliste ist als Parteizugehörigkeit „SPD“ angegeben. Als Grund seiner Internierung wird genannt: „Herausgeber/Redakteur faschistischer Publikationen“. Das hat vermutlich damit zu tun, dass Willy Stieber in der Weimarer Republik das Schulbuch „Neue deutsche Sprachlehre“ herausgegeben hatte, das im Nationalsozialismus noch einmal nachgedruckt wurde.

In diesem Jahr besuchte die heute in Kanada lebende Enkelin von Willy Stieber eine unserer Gedenkstätten, den Erinnerungsort Torgau, wo an das Schicksal ihres Großvaters erinnert wird. Dabei übergab sie unserem Archiv Originaldokumente aus dem Familienbesitz, unter anderem ein Tagebuch, das Willy Stiebers Tochter Gisela als 15-Jährige ab Juli 1947 geführt hatte. Auf der ersten Seite widmete sie das Tagebuch ihrem Vater, damit er die Aufzeichnungen, die während seiner Lagerhaft entstanden waren, später nachlesen könne. Der erste Eintrag stammt vom 16. Juli 1947 und lautet:

„Lieber, lieber Vati, hoffentlich kannst Du mich recht verstehen, daß ich Dir dieses Büchlein voll mit meinen inneren und äußeren Eindrücken schreibe und dir einmal schenken will. Es ist eine bitt’re Zeit für uns wie für Dich. Ich habe mir fest vorgenommen, alles wahrheitsgetreu niederzuschreiben, obwohl es mir sehr schwer fallen wird. (…) Ja, ich war heute ohne jegliche Hoffnung, darum schrieb ich hier, weil ich hoffte, hierdurch ein paar Minuten nur ganz wirklich bei dir zu sein.“

Was Willy Stiebers Tochter nicht ahnte: Ihr Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Er starb nach nur wenigen Wochen im Lager Mühlberg. Seine Frau und die beiden Töchter erfuhren erst Jahre später von seinem Tod.

Das Schicksal Willy Stiebers ist eines von Tausenden, an die wir heute erinnern. In den sowjetischen Speziallagern waren im Osten Deutschlands insgesamt 176.000 Männer und Frauen inhaftiert, von denen ein Drittel die Haftzeit nicht überlebte. Nicht anders in Mühlberg: Von 21.835 Inhaftierten fanden 6.766 den Tod.

Anna Kaminsky beschreibt die Zusammensetzung der Häftlingsgemeinschaft im Totenbuch des Lagers Mühlberg wie folgt:

„Unter den Gefangenen (…) befanden sich vorwiegend kleine und mittlere Funktionäre der NSDAP und von NS-Dienststellen oder einfache NSDAP-Mitglieder ebenso wie viele Jugendliche, die unter „Werwolf-Verdacht“ verhaftet worden waren, aber auch Gegner der sowjetischen Besatzungsmacht und der neuen nunmehr unter kommunistischen Vorzeichen errichteten Diktatur. In den Lagern waren aber auch zahlreiche willkürlich Verhaftete und völlig Unbelastete. (…) Unabhängig von ihrer individuellen Biografie und ihrer Verstrickung in das NS-Regime wurden die Häftlinge ohne Prüfung ihres jeweiligen Einzelfalls und teilweise sogar in Kenntnis ihrer Unschuld unter unmenschlichen und lebensbedrohlichen Umständen in den sowjetischen Lagern gefangen gehalten.“

(Zitat Ende)

Für uns in der Stiftung Sächsische Gedenkstätten spielt der Erinnerungsort Mühlberg eine bedeutende Rolle, denn gleich drei der historischen Orte, an denen wir eine Gedenkstätte eingerichtet haben, sind eng mit den Lagern in Mühlberg verknüpft. In die sowjetischen Speziallager in Torgau und Bautzen wurden viele der Gefangenen transportiert oder sie kamen von dort hierher.

Für die Zeit vor 1945 gilt Gleiches für das Kriegsgefangenenlager Zeithain bei Riesa. Dessen Geschichte kann nur zusammen mit der des nationalsozialistischen Kriegsgefangenenlagers Stalag IV B hier in Mühlberg verstanden werden, denn Zeithain war eine Ergänzung für Mühlberg, sei es als sogenanntes Russenlager oder als Kriegsgefangenen-Reservelazarett. Beide Lager waren außerdem Tatorte der Verbrechen der Wehrmacht vor allem an sowjetischen und italienischen Kriegsgefangenen.

Das Kriegsgefangenen-Mannschaftsstammlager IV B Mühlberg bestand von 1939 bis 1945. Zunächst kamen polnische, ab Sommer 1940 auch in großer Zahl französische, belgische und ab Frühjahr 1941 jugoslawische Kriegsgefangene hierher.

Am 15. Juli 1941 traf der erste Eisenbahntransport mit sowjetischen Kriegsgefangenen am Bahnhof Jacobsthal ein, von wo aus die Gefangenen zu Fuß nach Neuburxdorf marschieren mussten, wo sich das Lagergelände befand und heute der Gedenkort ist.

Zunächst wurden in Mühlberg rund 50.000 sowjetische Kriegsgefangene registriert. Bis zur Befreiung am 23. April 1945 durch die Rote Armee steigerte sich die Zahl auf rund 180.000 Rotarmisten insgesamt.

Ab September 1943 kamen viele italienische und britische Gefangene, im Herbst 1944 Slowaken, Rumänen und Angehörige der Polnischen Heimatarmee in das Lager. Die letzte größere Gruppe waren amerikanische Soldaten, die im Verlauf der Ardennenoffensive 1944/45 in deutsche Gefangenschaft gerieten.

Mittlerweile gehen wir davon aus, dass insgesamt mehr als 320.000 Kriegsgefangene aller gegen Nazideutschland Krieg führender Staaten das Stalag IV B während des 2. Weltkriegs durchliefen.

Insbesondere sowjetische und italienische Gefangene hatten unter eklatant schlechteren Lebensbedingungen zu leiden. Die Folge war, dass es unter ihnen zu einer deutlich höheren Sterblichkeit kam. Insgesamt verloren rund 3.000 Kriegsgefangene in Mühlberg ihr Leben, darunter etwa 2.400 Sowjetsoldaten. Diese wurden anders als alle anderen Gefangenen überwiegend in anonymisierten Massengräbern verscharrt.

Das Schicksal vieler sowjetischer Kriegsgefangener ist besonders erschütternd. Einer von ihnen war Jákow Michailowitsch Malków aus Russland. Er geriet als 33-jähriger Soldat am 4. Juli 1941 unverwundet und gesund in deutsche Gefangenschaft.

Nach seiner Gefangennahme kam er über diverse Durchgangslager in Belarus und Polen in das sogenannte Russenlager Stalag 304 in Zeithain. Dort durchlief er wie alle Kriegsgefangenen das übliche Registrierungsverfahren und erhielt eine Gefangenennummer.  Nach zwei Monaten in Zeithain wurde er im Oktober 1941 in das Stalag IV B hier nach Mühlberg verlegt. Kaum angekommen, schickte man ihn bereits nach drei Wochen wieder zurück nach Zeithain. Als Grund steht auf seine Personalkarte der Vermerk „Jude“. Jákow Malków hatte als Religionszughörigkeit bei seiner Registrierung noch „orthodox“ angegeben und offensichtlich auch die medizinische Eingangsuntersuchung überstanden, ohne aufgrund einer Beschneidung als Jude identifiziert worden zu sein.

Hier in Mühlberg wurde er offenbar als Jude enttarnt. Wie dies passierte, wissen wir nicht. Als kriegsgefangener Jude war Malków dem Tode geweiht. In Zeithain wurde er wahrscheinlich dem dortigen Gestapo-Einsatzkommando aus Dresden vorgeführt, das ihn in das Konzentrationslager Buchenwald überstellte. Vermutlich unmittelbar nach seiner Ankunft ermordete ihn dort die SS in der sogenannten Genickschussanlage und ließ ihn im Krematorium verbrennen. Jákow Malków war Opfer der sogenannten Aussonderungen, mit denen das NS-Regime seine Skrupellosigkeit gegenüber sowjetischen Kriegsgefangenen offenbarte, die nach Ansicht der NS-Führung als rassisch oder politisch nicht tragbar galten.

Hierzu zählten vor allem Juden und sowjetische Funktionsträger. Bis zum Sommer 1942 wurden allein im Reichsgebiet etwa 40.000 sowjetische Kriegsgefangene „ausgesondert“ und unmittelbar nach ihrer Ankunft in einem Konzentrationslager ohne vorherige Registrierung von der SS erschossen.

Meine Damen und Herren,

Jákow Malków und Willy Stieber, der das Tagebuch seiner Tochter niemals lesen konnte, sind nur zwei Schicksale von abertausenden, die mit Mühlberg verbunden sind. Heute gedenken wir der vielen Menschen, denen ihre Freiheit geraubt wurde, die ihre Gesundheit einbüßten, deren Seele beschädigt wurde oder die ermordet wurden. Wir gedenken der Opfer zweier Diktaturen, die ihren verbrecherischen Charakter hier in Mühlberg auf für uns unvorstellbare Weise offenbarten. Viele von Ihnen, die heute hierhergekommen sind, denken an Familienangehörige, an Ihre Mütter oder Ihre Großväter, die an diesem Ort gelitten haben.

Dass dieses Gedenken möglich ist, verdanken wir vieler engagierter Persönlichkeiten und namentlich der Initiativgruppe Lager Mühlberg, die nach 1989 darangegangen ist, diesen Ort des doppelten Schreckens in vielen Jahren mühsamer Arbeit in einen Ort des würdigen Gedenkens und Erinnerns zu verwandeln. Wie wichtig diese Arbeit nach wie vor ist, sehen wir auch daran, wie viele Familien heute gekommen sind, die mit Mühlberg auf schmerzhafte Weise verbunden sind. Für mich persönlich am beeindruckendsten an Ihrer Arbeit hier in Mühlberg ist, wie selbstverständlich und wie unerschütterlich Sie die Würde jedes einzelnen Opfers in den Mittelpunkt stellen.

Während vor allem in den neunziger Jahren viele historische Debatten in einen unwürdigen und ideologischen Streit um vermeintliche Gleichsetzungen und Vergleichbarkeiten der beiden Diktaturen des 20. Jahrhunderts abrutschten, haben Sie von Anfang an das getan, was menschlich und was notwendig ist: Informationen sammeln, einen Gedenkort schaffen, den Opfern ihre Würde erweisen. Das sollte allen anderen Gedenkstätten ein Vorbild sein. Für uns in der Stiftung Sächsische Gedenkstätten sind Sie es ganz gewiss. Haben Sie vielen Dank für Ihre wichtige Arbeit!

In einer Zeit zunehmender Polarisierung und der Entgrenzung vieler Debatten wird die Erinnerung wichtiger denn je. Russland begann einen mörderischen Angriffskrieg und überzieht die Ukraine mit einem Bombenhagel, der vor keinem Kindergarten, vor keiner Kirche und vor keinem Wohnhaus halt macht. Dabei liegen Bürger beider Länder auch hier gemeinsam als Opfer des deutschen Rassenwahns nebeneinander bestattet.

Populisten versuchen uns einzureden, wir lebten in einer Diktatur und keiner Demokratie. Sie fordern eine Kehrtwende in der Erinnerung um 180 Grad und verharmlosen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft mit Worten, die zu wiederholen der Respekt vor diesem Gedenkort verbietet.

Wahlumfragen zeigen, dass immer mehr Menschen in unserem Land umschwenken und antidemokratischen Kräften ihr Vertrauen schenken, wo ein gesundes Misstrauen und die Besinnung auf demokratische Werte angebracht wären. Dabei reicht ein Blick auf die Geschichte dieses Ortes, um zu erkennen, zu was Diktaturen fähig sind.

Lassen Sie uns gemeinsam weiterhin dafür Sorge tragen, dass die Mühlberger Lager nicht vergessen werden. Wir tun dies, um den Opfern ein ehrendes Angedenken zu bewahren. Aber wir tun dies ebenfalls, um auch morgen noch in Frieden und in einem freien und demokratischen Land leben zu können.

Vielen Dank.